Krank zur Arbeit zu gehen – trotz Erkältung, Schmerzen oder anderer Beschwerden –, wird als Präsentismus bezeichnet. Dieses Phänomen ist weitverbreitet: Laut der BAuA-Arbeitszeitbefragung 2023 haben 54 Prozent der befragten Beschäftigten in Deutschland mindestens einmal krank gearbeitet. Präsentismus kann langfristig negative Folgen für die Gesundheit haben.
In der Gesamttendenz sind die krankheitsbedingten Fehlzeiten in den Unternehmen in Deutschland seit Jahren rückläufig. Das ist auf den ersten Blick eine erfreuliche Entwicklung, die viele Ursachen hat. So leisten zum Beispiel die bessere Gesundheitsversorgung, die Prävention sowie die zunehmende Verbreitung der Betrieblichen Gesundheitsförderung (BGF) einen wichtigen Beitrag zum betrieblichen Gesundheitsgeschehen.
Doch Studien wie der jährlich erscheinende DAK-Gesundheitsreport zeigen: Beschäftigte sind heute nicht unbedingt gesünder – sie entscheiden sich nur häufiger dazu, trotz Krankheit zu arbeiten. Dabei arbeiten Beschäftigte häufiger trotz psychischer oder körperlicher Krankheitssymptome, entweder von zu Hause aus (virtueller Präsentismus) oder vor Ort, und verzichten dabei auf ausreichend Regenerationszeit.
Gesundheitliche Folgen
Ob Arbeiten trotz Krankheit möglich und ratsam ist, hängt stark von Art und Schwere der Erkrankung sowie von den Anforderungen des Arbeitsplatzes ab. So können zum Beispiel Bürobeschäftigte trotz einer verletzungsbedingten leichten Gehbehinderung oft weiterarbeiten, während Beschäftigte im Fahrdienst oder in der Instandhaltung im Krankheitsfall pausieren müssen. Denn hier ist ein Weiterarbeiten nicht möglich, beziehungsweise es würde den Krankheitsverlauf verschlimmern. Außerdem steigt bei einer Teilnahme am Straßenverkehr das Unfallrisiko.
Beschäftigte gehen am häufigsten weiter ihrer Tätigkeit nach bei:
- Rückenschmerzen,
- Beschwerden aufgrund von Allergien,
- psychosomatischen oder psychischen Beschwerden,
- leichten Erkrankungen,
- Atemwegserkrankungen / ansteckenden Infekten sowie
- Verletzungen des Bewegungsapparats.
Arbeitsbezogene Folgen
Es liegt nahe, dass nicht nur die Gesundheit der Betroffenen leidet, sondern auch deren Leistungsfähigkeit. Im kranken Zustand wird nicht die volle Arbeitsleistung erbracht. Die Konzentration leidet und es kann schneller zu Fehlern und im schlimmsten Fall zu mehr Unfällen am Arbeitsplatz kommen. Das wiederum erhöht das Risiko für Produktivitätsverluste und betriebswirtschaftliche Schäden im Unternehmen. Auch die Qualität des Betriebsklimas wird durch Präsentismus gefährdet. Denn es entsteht unter Umständen der Eindruck, krank zur Arbeit zu gehen, sei akzeptabel oder gar erwünscht. Deshalb ist dieses Verhalten besonders problematisch bei Führungskräften, da sie gegenüber ihrem Team eine Vorbildfunktion haben.
Vielfältige Ursachen
Die nicht repräsentative Studie „Präsentismus in einer zunehmend mobilen Arbeitswelt“ (2022) der Techniker Krankenkasse hat nach Gründen gesucht, warum Beschäftigte krank arbeiten. Demnach sind es:
- fehlende Vertretungsregeln,
- die Annahme, die Krankheit sei nicht ansteckend,
- der Wunsch, Kolleginnen und Kollegen nicht zur Last zu fallen,
- dringende Arbeiten oder Termine,
- der Spaß an der Arbeit,
- das Gefühl, unentbehrlich zu sein, sowie
- der Erfolgsdruck.
Arbeitsbedingungen im Fokus
Bei dem Thema ist es wichtig, die Arbeitsbedingungen in den Blick zu nehmen, die zu Präsentismus beitragen. Studien der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) und der Initiative Gesundheit und Arbeit (iga) haben ergeben, dass Beschäftigte mit häufigem Termin- und Leistungsdruck öfter im Krankheitsfall arbeiten als andere. Auch spielt eine geringe Personaldeckung eine den Präsentismus förderliche Rolle. Lange Arbeitszeiten, ein hohes Arbeitspensum und Schichtarbeit begünstigen ebenfalls Präsentismus. Hierbei steigt die Wahrscheinlichkeit, wenn Beschäftigte ihre Aufgaben nicht eigenständig delegieren können oder es keine klaren Vertretungsregelungen gibt beziehungsweise diese nicht bekannt sind. Präsentismus erscheint dann als nötige Bewältigungsstrategie, um die Arbeitsbelastung zu kompensieren.
Neuere Studien deuten zudem darauf hin, dass Beschäftigte, die häufig von zu Hause arbeiten, auch eher (virtuellen) Präsentismus zeigen. Dies könnte darauf zurückzuführen sein, dass die Hürden, krank von zu Hause zu arbeiten, niedriger sind als im Büro – zum Beispiel durch den Wegfall von Pendelzeiten und das geringere Risiko, Kolleginnen und Kollegen anzustecken.
Falsche Anreize
Ein weiterer Einflussfaktor für Präsentismus stellen Anwesenheitsprämien dar. Hierbei setzen manche Unternehmen gezielt Anreize ein, um die Abwesenheitsquote zu senken. Doch laut Carola Falkenberg, Arbeitspsychologin der VBG, ist das kontraproduktiv: „Solche Anreize belohnen gesundheitsgefährdendes Verhalten. Beschäftigte merken, dass es Vorteile bringt, krank zu erscheinen – und Fehlzeiten werden stigmatisiert.“ So vermittelt eine Anwesenheitsprämie das Gefühl, dass Fehlzeiten unberechtigt sind und verharmlost werden. Zudem verschiebt sich der Fokus von qualitativ guter Arbeit hin zu bloßer Anwesenheit. Carola Falkenbergs Erfahrung nach tritt Präsentismus selten im ganzen Unternehmen auf, sondern meist in einzelnen Bereichen. Die Botschaft, die dadurch auch in anderen Abteilungen ankommt und die Unternehmenskultur entsprechend prägt, lautet: „Lieber krank arbeiten als genesen!“ Präsentismus wird so zusätzlich dort gefördert, wo er bislang noch nicht gelebt wurde.
Allgemeine Praxistipps
Bewusstsein schaffen

Um zu einer sicherheits- und gesundheitsbewussten Unternehmenskultur zu gelangen, sollte ein gesunder Umgang mit Fehlzeiten im Unternehmen thematisiert und sichtbar gemacht werden. Hilfreich ist es zudem, das Thema Sicherheit und Gesundheit auf die Tagesordnung bei wiederkehrenden Meetings/Besprechungen zu setzen.
Orientierung geben und krankheitsbedingte Ausfallzeiten einkalkulieren
Über die Führungs- und Unternehmenskultur lässt sich ein Umfeld gestalten, in dem Krankheitstage als solche akzeptiert werden. Dazu sollte im Unternehmen offen kommuniziert werden, welches Verhalten im Krankheitsfall gewünscht und wie entsprechend zu verfahren ist. Wichtig ist zu betonen, dass diese Regelungen auch im Homeoffice gelten. Denn vielen Beschäftigten fällt es nicht leicht, zu entscheiden, wann sie krank genug sind für eine Krankmeldung. Ist eine kurzfristige Krankmeldung aufgrund von Schichtzeiten rechtzeitig möglich? Benötige ich zwingend eine ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung? Bleibt die Arbeit im Krankheitsfall liegen, da es keine Vertretungsregelung gibt? Sind alle ausgelastet oder gibt es Personalengpässe, sodass die Vertretungsregelung nicht funktioniert? Stehen langfristig geplante Termine an? Sind nach der Krankheit Überstunden nötig, um die liegen gebliebenen Aufgaben aufzuarbeiten? Kann eine der Fragen mit „Ja“ beantwortet werden, ist es wahrscheinlich, dass Beschäftigte auch krank zum Dienst erscheinen. Es gilt deshalb, die Arbeit so zu organisieren, dass Puffer für Ausfalltage eingeplant werden, Vertretungen geregelt sind und die vertretenden Personen die Aufgaben erfüllen können.
Praxistipps für den Fahrbetrieb
Wird ein Fahrer oder eine Fahrerin unerwartet akut krank, sollte klar festgelegt werden, dass unverzüglich ein Arzt aufgesucht wird. Wer sich etwa durch Fieber oder starke Schmerzen nicht mehr fahrtüchtig fühlt, sollte auch kein Fahrzeug mehr lenken. Die Einnahme von Schmerzmitteln und Fiebersenkern ist für Berufskraftfahrende häufig keine Option, einige Präparate beeinflussen die Fahrtüchtigkeit. Kommt es dann aufgrund verminderter Reaktionsfähigkeit zu einem Unfall, trifft den Fahrer oder die Fahrerin eine Mitschuld. Die Einnahme von Medikamenten sollte somit immer mit dem Arzt abgestimmt werden.
Vorbildfunktion der Führungskraft
Führungskräfte gehen idealerweise mit gutem Beispiel voran und kommen nicht selbst krank zur Arbeit. Außerdem sollten sie wachsam für Präsentismus in ihrem Team sein und – falls nötig – vertrauliche, klärende Gespräche mit den jeweiligen Beschäftigten führen. Zudem ist es wichtig, dass sich erkrankte Beschäftigte komplett auf ihre Genesung konzentrieren können, um schnellstmöglich wieder einsatzfähig zu sein.
Zusammenarbeit im Team gestalten
Regelmäßige Gespräche über Arbeitsbelastung, klare Absprachen zu Vertretungen und die Priorisierung von Aufgaben helfen, im Arbeitsteam Druck zu reduzieren und Präsentismus vorzubeugen.
Drei Fragen an die Expertin
Was treibt Beschäftigte an, im kranken Zustand zu arbeiten?
Das Arbeiten trotz Krankheit mag aus Sicht der Betroffenen sinnvoll erscheinen, etwa um dringende Aufgaben zu erledigen oder Kolleginnen und Kollegen nicht im Stich zu lassen. Doch langfristig kann ein solches Verhalten der Gesundheit schaden.
Welche gesundheitlichen Risiken werden durch Präsentismus verstärkt?
Bei einem schlechten Gesundheitszustand kann zum Beispiel das Risiko für Herzerkrankungen, Depressionen, chronische Erschöpfung und Burn-out steigen.
Was können die Unternehmen tun, um dem Präsentismus zu begegnen?
Wichtig ist es, über Langzeitrisiken von Präsentismus aufzuklären und kritische Arbeitsbedingungen zu betrachten. Das fängt damit an, sich über hinderliche Faktoren auszutauschen und als Unternehmen in der Gefährdungsbeurteilung insbesondere auch die psychische Belastung in den Blick zu nehmen.











